[Kino]  [Startseite]

The Sixth Sense

Freiheit

Cole kann in dem Moment mit seiner Gabe leben, wo er gelernt hat, mit den Toten, die er sieht, zu reden. Die Zeit mit dem toten Dr. Crowe hat ihm nicht nur die Fähigkeit gegeben, hinter der Erscheinung entstellter Leichen ihr Wesen zu sehen. Er ist auch souverän genug geworden, mit einer Umwelt zurechtzukommen, die mit seiner Gabe nichts anfangen kann.
So sitzt er am Ende des Films in einer Garderobe, wo er sich auf das Schultheaterstück vorbereitet. Dort lässt er sich von einer Lehrerin, die bei einem Schulbrand umgekommen ist, letzte Anweisungen geben. Er spricht ganz normal mit ihr. Als sein Klassenlehrer Mr. Cunnigham dazukommt und ihn fragt, mit wem er geredet habe, antwortet Cole lächelnd, er sei seinen Text nochmals durchgegangen. Er ist so frei geworden, dass er nicht mehr bedrückt schweigen muss, sondern eine Lüge erfinden kann, die seine Umwelt nicht irritiert.
Einen komödiantischen Zug - allerdings nur in der deutschen Fassung - hat die Folgeszene im Treppenhaus, wo ihm der Lehrer erzählt, dass es einen Schulbrand gegeben hätte: Coles kurzes "Ich weiß." vermittelt die Botschaft, dass wohl nicht der Tod besiegt ist, dennoch aber sein Schrecken gebannt.

Der zerrissene Vorhang

Cole hatte sich, um den Schreckensgestalten zu entkommen, in seinem Zimmer ein Refugium gebaut: ein Zelt aus rotem Stoff, wie eine Kapelle eingerichtet, mit Heiligenfiguren. Niemand betrat es - auch die Toten nicht. Aber in dem Moment, wo er den Gedanken zulassen konnte, dass die Toten ihn nicht ängstigen wollten, sondern ihn als Botschafter brauchten, schützte der Tempel nicht mehr. Zwar zog Cole sich, als ein vergiftetes Mädchen ihn aufsuchte, wieder in seine Kapelle zurück: doch das Mädchen reißt die Plane entzwei. Es erzwingt den Kontakt, zu dem Cole bald bereit sein wird.
Es erinnert an den Tempelvorhang, der in dem Moment zerreißt, wo Jesus stirbt.

Der Schüler und sein Lehrer

Eine der großen Szenen ist die in der Schule: Zuerst läuft die Unterrichtsstunde wie gewohnt. Im Sinne des "fragend-entwickelnden Unterrichtsgesprächs", auch "sokratische Methode" genannt, langweilt der Lehrer Mr. Stanley Cunnigham durch die Stunde:

Lehrer: "Wer weiß, welche Stadt früher die Hauptstadt war?"
Schüler: "..."
Lehrer: "Ich geb euch einen Tipp: es ist die Stadt, in der ihr lebt."
Schüler (im Chor): "Philadelphia."

So droht es weiterzugehen. Aber die nächste Frage durchbricht die gewohnte Struktur des Unterrichts: "Wer weiß, wozu dieses Gebäude früher gedient hat?" Hier meldet sich Cole und offenbart die düstere Vorgeschichte der Schule, die nur noch wenig mit den staatlichen Ideen als solchen, aber sehr viel mit dem Leid von Gehenkten und der Rachsucht von Henkern zu tun hat. Und Cole hat noch mehr gesehen: er kennt die Vorgeschichte des Lehrers ("Stotter-Stanley"). Der Lehrer, der gerade noch der Lenker des Unterrichtsgeschehens war und Cole durch seinen Blick niederzuhalten suchte, wird von Cole nun gnadenlos, wie Kinder sein können, mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Er fällt augenblicklich um viele Jahre in seine Stotterei zurück und rettet seine Machtposition - nicht mehr seine Autorität - nur dadurch, dass er Cole fast schlägt und demütigend zum Schweigen bringt.
Schön an dem Film, dass das nicht das letzte Wort zwischen Cole und dem Lehrer ist! Denn am Ende des Films wird Cole von ihm die Rolle des König Arthur bekommen. Hier erweist der Lehrer seinem Schüler tiefen Respekt. Und er hat seine Autorität dadurch zurückgewonnen, dass er mit Cole im Prozess bleibt. Schade, dass der Film nicht mehr über die beiden zu sagen weiß!

Wie verwirrt ist Cole?

Es stellt sich nun die Frage, ob Menschen wie Cole schlicht eine Macke haben, oder ob sie in andere Lebenswirklichkeiten sehen können. Irren Tote in einer Zwischenwelt durch die Welt der Lebenden?
Cole deckt in dem Film einen Giftmord auf. Er kann das nur mit Informationen tun, die er von dem Opfer selbst bekommen hat: die Adresse, ein Video, die Lieblingspuppe der jüngeren Schwester. Solches im realen Leben anzunehmen, halte ich für abenteuerlich.
Cole kennt die düstere Geschichte seiner Schule: er sieht Gehenkte, Brandopfer und andere Scheußlichkeiten der Rechtsmedizin. Da allerdings ist es sehr sehr wohl denkbar, dass er mehr sieht als andere. Er sieht gewissermaßen die Seele des Gebäudes, die Erinnerung an vergangenes Grauen, die sich realiter nur transportiert in düsteren Schülergeschichten, in Flüstereien von Eltern und Lehrern, die sie selbst auch nur noch aus zweiter Hand haben. Das kann sich in der Einbildungskraft des Gehirnes sehr wohl verdichten zu lebenden Bildern. Die Einbildungskraft des Gehirnes, dieses nichtlinearen Systems, ist der Natur näher als das Flussdiagramm einer Deduktion. Hier mag nur eine einzige Information genügen ("Diese Schule war ein Richthaus."), um das ganze Leid der Gehenkten, das körperliche und das seelische, wachzurufen. Der Verzweifelungsschrei namenlos Verscharrter - und die Weltgeschichte ist voll von ihnen -, der sonst nur in Klagepsalmen ertönt, wird Laut, Geste. Und so wie ein Ertrinkender sich an alles klammert und selbst den Retter zu ertränken sucht, so zerren sie auch an einem Achtjährigen und prügeln auf ihn ein. Nicht aus Wut oder Hass, sondern weil sie sonst wieder Ewigkeiten auf einen Cole warten müssten, um endlich zu ihrem Recht oder wenigstens ihrem Frieden zu kommen.

Gibt es Geister? Es gibt sie nicht als Existenzen, die in wenigen Sekunden Dutzende von Schranktüren öffnen könnten (Frühstücksszene). Aber in unserem Gehirn können Visionen entstehen, die nicht krankhaft, sondern Boten ungelöster Menschheitsfragen sind.

Uwe Heiland


[nach oben]  [Kino]  [Startseite]